SPIEGEL ONLINE "KULTUR":
Künstler in der Gegenwart: "Mach einen Haufen Geld oder stirb"
Ein Interview von Timo Feldhaus
Frei, kreativ, flexibel: Dieses Idealbild des Künstlers gilt im
Spätkapitalismus längst für alle. Was macht dann noch einen Künstler
aus? Die Soziologin Sarah Thornton hat mit Stars wie Damien Hirst über
ihr Selbstverständnis gesprochen.
Die Figur des Künstlers hat
auch in der Transparenzgesellschaft nichts an Faszination verloren. Er
gilt als frei, individuell und nur seinen eigenen Regeln unterworfen.
Was aber macht heute einen Künstler zum Künstler?
Nennen wir
nicht den Unternehmer, der durch kreativen Geist die neusten technischen
Produkte erschafft, einen Künstler? Was ist mit einem Ballkünstler wie
dem argentinischen Fußballer Lionel Messi? Auch viele Aktienhändler
sprachen nach der Wirtschaftskrise von ihrer Arbeit als einem
künstlerischen Prozess, der die Welt durch Geldtransfers neu ordne.
Identität ist in der zeitgenössischen Form des Spätkapitalismus zu
einer wandelbaren Kategorie geworden, an die wir unsere Leben anpassen
müssen. Wenn der Mythos von Schöpfertum, Kreativität und
Selbstbestimmung nun zu einem gesamtgesellschaftlichen Lebensstil und
Ideal geworden ist, was bedeutet eine solche Existenz dann überhaupt
noch?
Also: Was ist, im Jahr 2015, eigentlich ein Künstler? Eine
Frage, die man am besten Sarah Thornton stellt, einer Soziologin, die
mit Stars der internationalen Kunstszene gesprochen und ein Buch darüber
geschrieben hat: "33 Künstler in 3 Akten" heißt es und ist gerade auf
Deutsch erschienen.
Zur Person:
arah Thornton, geboren 1965
in Kanada, ist Wissenschaftlerin und Autorin. Sie studierte
Kunstgeschichte und Kultursoziologie in Montreal und Glasgow. Ihre
Doktorarbeit "Club Cultures" (1995) gilt als erste soziologische
Untersuchung der Techno-Subkultur. Über zeitgenössische Kunst schrieb
sie für Medien wie "The Economist", "The New Yorker" und "The Guardian".
Kürzlich erschien ihr Sachbuch "33 Künstler in 3 Akten" (Fischer).
Thornton lebt in London.
SPIEGEL ONLINE: Joseph Beuys hatte die Idee, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Hat er sich getäuscht?
Thornton: Ja. Und ich bin überzeugt, dass er das auch selbst nicht
glaubte. Wieso musste er sonst all die Mythen über sich selbst und seine
Arbeit entwickeln? Das begann bereits mit der Erzählung seines
Flugzeugabsturzes im Zweiten Weltkrieg, woraufhin ihn Tataren fanden,
mit Fett einrieben und in Filz einpackten. Er überlebte - und diese
Stoffe wurden später zum Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens.
Heute kann sich jeder Künstler nennen. Aber sind deine Eltern wirklich
überzeugt, dass du einer bist? Es geht letztendlich darum, von einem
sozialen Milieu als Künstler anerkannt zu werden. Und das ist gar nicht
so einfach.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, man muss nur lange genug erzählen, dass man ein Künstler ist?
Thornton: Vor allem muss man es selbst glauben.
SPIEGEL ONLINE: Aber besteht nicht die Definition des Künstlers gerade darin, an sich, der Welt und seiner Rolle zu zweifeln?
Thornton: Die Mehrheit der Kunststudenten lernt heute, dass sie keine
Künstler sind. Sie machen zwar einen Abschluss, aber es sind einfach zu
viele für den Kunstmarkt. Es kommt auf das künstlerische
Erweckungserlebnis an, wenn man beginnt, seine Rolle zu akzeptieren und
sich selbst als Künstler zu definieren. Das muss nicht notwendigerweise
im Studium stattfinden: Etwa, wenn man zum ersten Mal etwas verkauft
oder in einer Galerie ausgestellt wird. Künstler zu sein, ist nicht
einfach ein Job, sondern eine Identität.
SPIEGEL ONLINE: Aber
heute muss doch jeder ein Künstler sein. Nicht nur im Kreativbereich,
auch in Start-ups beruht das Einstellungskriterium darauf, offen,
freigeistig, flexibel und eine superindividuelle Persönlichkeit zu sein,
die regelmäßig unerwartete Dinge tut. Wie ist der Künstler zum
Idealbild unserer Zeit geworden?
Thornton: Das, was Sie
beschreiben, heißt aber noch lange nicht, dass nun alle Künstler sind.
Das Feld der Kunst ist ein System, das nach eigenen Regeln an dafür
vorgesehenen Orten stattfindet. Die Metaphern der Kunst werden adaptiert
von anderen Welten, weil sie interessant und aufregend sind.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch vertreten Sie die These, dass Künstler
heute vor allem ihre eigene Persönlichkeit als Instrument ins Spiel
bringen, genauso wie Farbe und Pinsel. Seit wann ist das so?
Thornton: Das geht sehr weit zurück. Der Maler Gustave Courbet hat schon
Selbstporträts erschaffen, die eigentlich Werbungen für ihn waren. Er
hat sich als Künstler entworfen, als exzentrischer Verrückter mit wildem
Haar. Die Unabhängigkeit von Mäzenen ging einher mit dem Aufkommen des
bourgeoisen Salons im 18. Jahrhundert, dort wurde der Künstler dann zum
Entrepreneur und erfand sich erstmals in der Rolle des Geschäfts- und
Frontmanns. Marcel Duchamp fand später die gottselige Kraft,
Alltagsdinge zu Kunst zu erklären. Ohne die Arbeit seiner Hände, ohne
Farben und Leinwand. Das brachte die Aufmerksamkeit gezielt auf die
Künstler-Persona.
SPIEGEL ONLINE: Duchamp sagte nicht, jeder sei ein Künstler, sondern alles könne Kunst sein. Hat sich seitdem nichts verändert?
Thornton: Diese Idee definiert noch das heutige Künstlerbild: Es kann
eben nicht jeder aus einem Urinal ein "Fountain" machen, wie Duchamp
sein Ready-made aus dem Jahr 1917 taufte. Wenn ich ein Urinal aus einem
Sanitärgeschäft nehme, es in den Galerieraum stelle und meinen Namen
draufschmiere, wäre es trotzdem nichts weiter als ein Urinal. Man muss
in einer bestimmten Position sein, um etwas als Kunst zu deklarieren.
SPIEGEL ONLINE: Ist man deshalb geneigt, auch jemanden wie Steve Jobs
einen Künstler zu nennen, weil es in allen Kunst- und
Kulturproduktionsfeldern um überzeugende neue Ideen und deren Produkte
geht?
Thornton: Das ist auf jeden Fall der Grund, warum
konzeptuelle oder zeitgenössische Kunst so populär ist: Weil unsere
Gesellschaft immer konzeptueller wird. Was ist ein Flakon Parfüm? Der
Duft ist natürlich sehr wichtig. Aber ohne das kulturelle Konzept, die
Verpackung, die Idee dahinter, würde es niemals funktionieren.
SPIEGEL ONLINE: Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie selbst keine
Künstlerin sind? Immerhin haben Sie ein Buch geschrieben, das eine
gewisse Theatralik schon im Titel behauptet: "33 Künstler in 3 Akten".
Thornton: Ich habe Kunstgeschichte studiert und das Erste, was ich
dabei gelernt habe, ist, dass ich keine Künstlerin bin. Ich entspreche
dem Mythos nicht - und vor allem: Ich habe es niemals von mir behauptet.
Das ist der Grund.
SPIEGEL ONLINE: Warum haben Sie für Ihr Buch eine Struktur in drei Akten gewählt?
Thornton: Nachdem ich hundert Leute interviewt hatte, habe ich
festgestellt, dass drei Themen immer wieder auftauchen: Politik,
Partnerschaft und Handwerk. Bei der Politik ist die Frage stets: Bist du
ein Künstler, bist du ein Aktivist, ein Lehrer oder ein Geschäftsmann?
Ich diskutiere das vor allem mit und bei Damien Hirst und Jeff Koons, da
sie aktuell die wesentlichsten und bekanntesten Figuren in diesem
Zusammenhang sind. Auch das Handwerk funktioniert als Merkmal der
Herabsetzung des Künstlers: "Das ist ja nur Handwerkskunst oder Design."
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern geht es auch um das Thema Partnerschaft?
Thornton: In dem Teil, der mit Partnerschaft überschrieben ist, werden
vor allem feministische Fragen verhandelt. Es gilt etwa zu fragen, warum
es so wenige Künstlerinnen, vor allem ältere, schaffen, Glaubwürdigkeit
zu erlangen. Außerdem habe ich mehrere Künstlerpaare besucht, die eine
Ehe führen oder eine Familie gegründet haben, und trotzdem nie aufgehört
haben, Künstler zu sein. In dem Buch kommen oft Carroll Dunham und
Laurie Simmons vor, deren Tochter Lena Dunham wiederum die bekannte
Serie "Girls" produziert hat.
SPIEGEL ONLINE: Und was eint diese drei Akte?
Thornton: Grundsätzlich geht es mir immer um die Frage: Was macht den
Künstler zum Künstler? Viele meiner Gesprächspartner fanden die Frage
nicht sehr erheiternd, denn sie sind es gewohnt, nur über sich selbst zu
sprechen.
SPIEGEL ONLINE: Ist es überhaupt möglich, die Mythen der Kunst zu entlarven?
Thornton: Kunst braucht ja Mythen. Die Frage ist eher, an welche Mythen
wir heute noch glauben können. Als ich Ai Weiwei gefragt habe, was die
Rolle des Künstlers sei, erzählte er mir eine lange Geschichte über
seinen Vater und wie dieser ein Staatsfeind wurde. Ich fragte ihn, ob
das für seine Definition des Künstler wesentlich sei. Er machte eine
Pause und sagte: "Nein, ein Künstler ist der Feind der allgemeinen
Wahrnehmung." Was wiederum ein romantischer Mythos aus der Avantgarde
ist.
SPIEGEL ONLINE: Es ist ein Klischee.
Thornton:
Richtig. Allerdings erlaubt es Ais politische Situation in China, ohne
Grundrechte und ohne Meinungsfreiheit, durchaus, einen solchen Mythos
darzustellen. Hätte ein Künstler aus New York das gesagt, hätten wir es
ihm wohl kaum abgenommen.
SPIEGEL ONLINE: Heute geht es ständig
um den Markt, um Geld, Messe-Ergebnisse und Auktionsberichte. Nicht mehr
um einzelne Kunstwerke.
Thornton: Es gibt zwei Möglichkeiten für
einen Künstler auf die erste Seite einer Zeitung zu gelangen: Mach
einen Haufen Geld oder stirb. Oder töte jemanden, das würde auch helfen -
passiert aber nicht sehr oft. Es lohnt sich, einmal grundsätzlich
darüber nachzudenken, welchen Wert Geld als Kriterium für Headlines in
den Medien hat. Für Künstler ist das zudem sehr gefährlich. Denn es
existiert kein anderer so effektiver Zerstörer von Glaubwürdigkeit wie
Profit. Wenn ein Künstler zu viel Geld verdient, läuft er Gefahr, zu
einem Designer von Luxusprodukten zu werden. Unser Glaubenssystem in der
Kunst beruht aber darauf, dass es etwas gibt, was höher zu bewerten ist
als der reine Geldwert.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass Künstler magische Kräfte haben?
Thornton: Rein technisch würde ich sagen: Nein. Andererseits: Charisma
ist extrem hilfreich. Ein Gutteil der Kunstausbildung besteht darin,
neben seinem Werk zu stehen und es möglichst gut zu erklären. Die Rolle
des Magiers spielt besonders Marina Abramovic sehr gut. Mit ihrer
Performance "The Artist Is Present" hat sie meine These, dass Künstler
heute ihre Persönlichkeit für ihre Arbeit benutzen, unterstrichen. Diese
Art ist übrigens, auch in der Interpretation durch Beuys, der sich in
der Figur des Schamanen gefiel, der die Gesellschaft heilt, nirgends so
relevant wie in Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: Ich muss ehrlich
sagen: Am Ende lässt mich dieses Gespräch traurig zurück. Die Kunst ist
ruiniert. Sie hat all ihren Zauber verloren. Es ist dasselbe System wie
Politik geworden: Vorne steht ein Frontmann, meistens ein Mann, der
gewählt werden will. Er muss seine Idee mit Inhalten füllen, sonst
klappt es nicht. Charisma ist aber sehr hilfreich. Durch gute Werbung
muss er Menschen überzeugen, an ihn zu glauben. Ist das nicht sehr
traurig?
Thornton: Für mich ist es wichtig zu erklären, wie das
System wirklich funktioniert. Wenn das am Ende jemanden desillusioniert
zurücklässt, finde ich das schade. Ich sehe in der Figur des Künstlers
weiterhin das größte Potenzial, weil er die Fragen der Gesellschaft auf
seinem Körper austrägt. Und in seinem System Fragen stellt, die uns im
besten Fall alle angehen.